Eurydike & Orpheus 4: Fahrt über den Styx

Prozeß & Zustand auf zwei Ebenen
Konzertantes Theater – Theatrales Konzert
Musiktheatraler Prozeß für 5 Tänzerinnen, 1 Schauspielerin, 3 Schlagzeuger und Live-Videoübertragung
Von Stephanie Hecht

Eurydike: Ana Carbia, Stephanie Hecht, Barbara Kastura, Julia Kleiner, Zuhal Toptas (Tanz und Stimme)
Orpheus: Frank Fiedler, Matthias Gassert, Stefan Streich (Schlagzeug)
Charon: Vera von Wilcken (Stimme)
Videoinstallation: Vera von Wilcken
Musik: Stefan Streich
Künstlerische Leitung: Stephanie Hecht und Stefan Streich

Eurydike ist an einem Schlangenbiß gestorben. Orpheus versucht in die Unterwelt zu gelangen und die Geliebte zurückzuholen. Der Totenfähr-mann Charon weigert sich jedoch Orpheus über den Fluß Styx ins Reich der Toten zu bringen. Orpheus schläfert Charon durch seinen Gesang ein und setzt unerlaubt über. Es gelingt ihm also mit Hilfe seiner Kunst als Lebender den gleichen Weg zu gehen, den auch Eurydike ging.
Die Fahrt über den Totenfluß Styx ist ein mythologisches Bild für den Moment des Übergangs zwischen Leben und Tod; ein Zustand zwischen den Welten, nicht mehr richtig am einen Ort, aber auch noch nicht ganz angekommen am anderen: Wasser ist das bewegte Element und das Schiff ist der feste Boden unter den Füßen, der schwankt.
Die Reise verläuft in einem Zwischenbereich, in dem das eine Bein noch im Alten, das andere aber bereits im Neuen ist. So findet sich auch die Figur des Einbeinigen oder des Verschiedenfüßigen in vielen Kulturen als Bild dafür, zwischen den Welten zu stehen. Der christliche Teufel beispielsweise, mit seinem einen Pferdehuf stammt ursprünglich ebenfalls aus diesem mythischen Zwischenbereich.
Die Bewegung vom Leben zum Tod wird oft beschrieben als ein Prozeß, der in mehreren Stufen verläuft: Vom Verlust des körperlichen Kon-takts über die Auflösung des Verstandes und des Gefühls bis hin zur Leere, die sich einverstanden erklärt.
Eurydike und Orpheus gehen auf verschiedenen Wegen – sie als Tote „legal“, er als Lebender „illegal“ – in die selbe Richtung. Sie bewegen sich klar, aber nahezu unmerklich zwischen hell und dunkel, oben und unten, innen und außen, hinten und vorne, hören und sehen, gehen und stehen, nah und fern, Veränderung und Stillstand, Gleichzeitigkeit und Aufeinanderfolge, Gemachtem und Zufälligem.

1999, Kunstschiff Anna, Berlin